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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 16 | 2021 Urbanisierung

Im Dialog mit Kristian Villadsen

Städte müssen zum intuitiven, nachhaltigen Leben einladen

Die Urbanisierung ist in Europa heute weitgehend abgeschlossen, dennoch weisen das Wachstum der Großstädte und die steigenden Wohnpreise auf eine neue Beliebtheit der Städte hin. Gehl hat wesentlich zum städtischen Wandel, hin zu grünen Infrastrukturen und Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum, beigetragen, der die Menschen in die Städte zieht. Sie arbeiten für Städte, die ein nachhaltiges Verhalten ermöglichen.

Kristian Skovbakke Villadsen
ist Partner und Direktor von Gehl. Villadsen arbeitet daran, die Potenziale unserer Städte zu erkennen und mit Schwerpunkt auf dem städtischen Verkehr Lösungen für die Anforderungen an unsere Städte zu finden, um so die Voraussetzungen für ein nachhaltiges Leben zu schaffen. Er arbeitet federführend an einer Reihe von Masterplänen, Stadtentwicklungs- und Revitalisierungsprojekten in Nordeuropa und agiert als Berater für zahlreiche Entwickler und Städte. Villadsen steht im ständigen Dialog mit Stadtverwaltungen, Autoherstellern, Anbietern von Mikromobilität und öffentlichen Verkehrsmitteln, um Strategien für die Mobilität der Zukunft zu entwickeln. Darüber hinaus sitzt er im Beirat der IBA Stuttgart 2027 und lehrt als Dozent zum Thema Stadtentwicklung. Im Jahr 2018 erhielt Villadsen den Shanghai Magnolia Award für seine „herausragenden Beiträge zum wirtschaftlichen Aufbau Shanghais, zur sozialen Entwicklung und zum internationalen Austausch“.
Der Faktor Lebensqualität entwickelt sich zum neuen Ziel für Städte. Welche ökologischen, politischen, sozialen und technologischen Maßnahmen braucht es, um Städte zu lebenswerten Orten zu transformieren?

Der Zugang zu Arbeit und Kultur, aber auch die Qualität des Stadtraums und der Infrastruktur machen die Großstädte attraktiv. Städte müssen sich fragen, was es braucht, damit die Menschen die Stadt nutzen. Eine schlaue Stadt denkt zielübergreifend und berücksichtigt gleichzeitig Grün, Gesundheit und Nachhaltigkeit. In Kopenhagen sind beispielsweise viele neue Schulhöfe gebaut worden, die für alle rund um die Uhr offenbleiben. So wird eine Investition in Bildung zum Nutzen für alle Bürgerinnen. Das hat sich auch finanziell bewährt, da diese Schulhöfe jetzt weniger von Vandalismus betroffen sind.

Wo liegen die Herausforderungen um solche innovativen, vielschichtigen Konzepte umzusetzen?

Wir können es uns nicht mehr leisten, nur ein Problem nach dem anderen zu lösen. Verschiedene Funktionen müssen zusammenspielen. Unser Bau- und Planungsrecht ist hauptsächlich in den 1950er-Jahre geschrieben worden. Damals waren die verschiedenen Administrationen – die Abteilungen für Parks, Gebäude, Ökonomie etc. – komplett getrennt. Oft entwickeln wir also Visionen für die Zukunft, die auf Denkweisen basieren, die wir heute eigentlich längst hinter uns gelassen haben. Das ist ein globales Phänomen. Mit diesem business  as usual müssen wir brechen. Heute muss die eine Maßnahme auch andere Bereiche unterstützen. Als Beraterinnen in der Stadtentwicklung haben wir eine Verantwortung, die Perspektive zu erweitern und Entscheidungskräfte darüber aufzuklären, welche langfristige Konsequenzen bestimmte Maßnahmen haben, damit sie wohlüberlegte Entscheidungen treffen können. Und wir müssen dafür sorgen, dass die Städte zu einem nachhaltigen Verhalten einladen.

Welche Handlungsfelder leiten sich aus dieser Perspektive für deutsche Städte ab?

Das ist in Deutschland nicht anders als in allen anderen Ländern: Wir müssen gemischte Städte für das Leben und Arbeiten schaffen. Statt Wohnquartiere, die nur morgens und abends belebt sind, brauchen wir eine Mischung von Wohnungen, Handel, Arbeitsplätzen, Wirtschaft und öffentlichen Räumen. In unserer Arbeit mit Masterplänen in Deutschland laden wir gerne vorab alle Abteilungen der Stadt ein, um uns gemeinsam dauerhafte Möglichkeiten und Begrenzungen klarzumachen, um Balancen zu finden und Kompromisse einzugehen. Für die Weiterentwicklung der Städte ist es auch wichtig, nicht nur die Ränder zu erweitern, sondern die existierende Stadt nach und nach zu verdichten und aufzuwerten. Für die Planung einer nachhaltigen Nutzung müssen wir uns Zeit nehmen.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Wir müssen die bestehenden Städte mit Qualitäten verdichten. Alte Gebäude sollten renoviert und neue gebaut werden, insbesondere um öffentliche Transportkorridore herum. Grüne Räume sollten verbessert werden, um sie als öffentliche Räume aufzuwerten und um lokales Wassermanagement sowie die Biodiversität zu unterstützen. Wir müssen unsere Straßen als größten öffentlichen Raum der Städte genauer anschauen und sie für grüne Mobilität und ein gesundes Alltagsleben entwerfen. Und dann ist jedes unterentwickelte Stück Land als wertvolle letzte Ressource zu behandeln und muss unsere Zukunftsvisionen verkörpern.

Schön ist, dass wir momentan besser werden, die Natur mit einzubeziehen, aber auch ehemalige Industrie- und Gewerbeflächen zu nutzen. Letztere befinden sich oft in einer vorhandenen Infrastruktur. Statt also neu zu bauen, kann hier, mit der Ausnutzung und Unterstützung vorhandener Strukturen, nachverdichtet werden. Dabei kann der Stadt- und Straßenraum mit Parks und Plätzen akupunkturhaft aufgewertet werden, was wiederum dem Handel einen Schwung verleiht.

Welche Aufgabe schreiben Sie für die kreative Nutzung des vorhandenen Stadtraums den Ingenieur*innen zu?

Wir sollten uns immer alle fragen, wie wir aus einem gegebenen Ort einen fantastischen Raum schaffen können. Dazu braucht es diesen frühen Dialog zur Co-Creation. Wenn es beispielsweise angesichts des Klimawandels um Wassermanagement geht, müssen wir über die technischen Lösungen hinauskommen, um qualitative Lösungen zu finden. Investitionen in notwendige Infrastrukturen können mit der Schaffung von urbanen Möbeln, Landschaften und Design verbunden werden, die zur städtischen Lebensqualität beitragen.

Was bedeutet es für Sie, Verkehrswege und Mobilität neu zu denken? Und welche Rolle spielen in diesem Prozess Ingenieur*innen?

Die Erwartung von großen deutschen Autoherstellern ist es, dass sie sich in wenigen Jahren nicht nur auf die Produktion glänzender Autos konzentrieren, sondern auch Services liefern. Zum Beispiel mit einer App, die es zur aktiven Wahl macht, in besonderen Situationen mit dem Auto zu fahren. Dabei wird das Autofahren gleichgestellt mit dem öffentlichen Nahverkehr. Wir wissen, dass die meisten zu Fuß oder mit dem Fahrrad zum öffentlichen Nahverkehr kommen. Sind wir erst im Auto, bleiben wir im Auto. Wollen wir den öffentlichen Nahverkehr unterstützen, brauchen wir also eine gute Infrastruktur für Fußgängerinnen und Fahrradfahrer. Dagegen gibt es das Schreckensszenario selbstfahrender Autos, die ihre eigene Infrastruktur brauchen und neue Barrieren bauen würden.

Wie sieht eine fußgänger- und fahrradfreundliche Infrastruktur aus?

Da gibt es keine A-bis-B-Lösung. Eine Straße ist nicht nur eine Straße, sondern befindet sich immer in einem Kontext. Wie benehmen sich die Menschen an dem jeweiligen Ort? Wie ist das Mikroklima? Man muss die lokale Kultur bis ins Detail und im menschlichen Maßstab verstehen. Wir müssen es leicht machen, Gutes zu tun. Eins meiner Lieblingsbeispiele sind die wiederkehrenden Umfragen in Kopenhagen dazu, warum über 50% hier mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Einige sagen, sie machen es wegen der Gesundheit, des Klimas oder weil es günstig ist, aber die allermeisten sagen, dass es am einfachsten ist und am schnellsten geht. Die Infrastruktur macht es leicht, ein ökologisches Transportmittel zu nehmen.

Bei der großen grünen Umstellung wird viel Eigenverantwortung verlangt. Sie sagen andersherum, dass uns die Gesellschaft ein nachhaltiges Verhalten ermöglichen muss? Und dass ein ökologisches Leben von Architekt*innen und Ingenieur*innen unterstützt werden kann?

Bei vielen nachhaltigen Lösungen geht es um Materialwahl oder Energieverbrauch. Der größte Anteil der CO2-Emissionen läuft aber über unser Verhalten. Diese Aufgabe ist noch nicht gelöst. Wir brauchen eine physische Umgebung, die ein intuitiv ökologisches Leben fördert. Wir haben als Architekten und Ingenieurinnen eine riesige Verantwortung, indem wir den Rahmen des Alltags von anderen Menschen bauen. Wenn du ein neues Bürogebäude im existierenden öffentlichen Transportsystem baust, dann sparst du fünf bis zehn Mal so viel CO2, als wenn du ein CO2-neutrales Haus in einer autoabhängigen Umgebung baust.

Wir können es uns nicht leisten, in Infrastruktur und Neubauquartiere zu investieren, die ein nicht-nachhaltiges Verhalten unterstützen. Wir müssen kooperieren, um Städte zu schaffen, die zu einem nachhaltigen Lebensstil einladen.

Interview | Marie Bruun Yde
Fotos, Visualisierung | Titelfoto, Daniel Hawelk; Foto 2; BIG – Bjarke Ingels Group und Rasmus Hjortshøj; Visualisierung, Gehl; Foto 3, Daniel Hawelka