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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 18 | 2022 CO2

Artikel | Alexander Stumm

Die planetaren Dynamiken der Kohlenstoffkreisläufe

Das Werkstattgebäude für die Konrad-Zuse-Schule in Berlin-Pankow von ZRS Architekten entstand in modularer Holzbauweise. Neben der Verwendung natürlicher Baumaterialien zielt das Nachhaltigkeitskonzept auf eine flexible, reversible Konstruktion, die mögliche zukünftige Umnutzungen erlaubt.

Der Zementhunger ist global und unersättlich. Aber ein CO2-neutraler Beton ist ein Ding der Unmöglichkeit. Welche Alternativen haben wir? Wie können wir umweltfreundlicher weiterbauen?

Das System Hennebique gilt als internationaler Durchbruch des Eisenbetonbaus. Im Jahr 1892 eröffnete der Bauingenieur François Hennebique das bureau d’etudes, sein Konstruktionsbüro, welches die dem Unternehmen vorgelegten Entwürfe oder Bauanträge in Stahlbeton umsetzte. Sechs Jahre später verzeichnete er bereits 714 Projekte in seinen Büchern. Im Jahr 1905 kontrollierte er schätzungsweise ein Fünftel des Weltmarktes für armierten Betonbau. Als prototypisches modernes Unternehmen gilt das bureau auch wegen seines ausgeklügelten Werbeapparats. Darunter fallen eine Monatszeitschrift mit dem Namen „Le Béton Armé“, die Konzeption und Finanzierung von Ausstellungen oder die Organisation von Banketten für Konzessionäre. All das war notwendig, um seinen schärfsten Konkurrenten auszustechen: die Stahlindustrie. Die Seiten seiner Zeitschrift waren voll von aggressiven Anklagen gegen Stahl und die ruchlosen Praktiken der Stahlhersteller. Unser heutiges Verständnis von Beton als das Baumaterial der Moderne schlechthin setzte sich also nur langsam, gegen viele Widerstände und mit Hilfe gezielter Lobbyarbeit durch.

Portlandzement besteht zu 95 Prozent aus Zementklinker, einer Mischung aus Ton und Kalkstein, und zu fünf Prozent aus Gips. Die Rechnung ist einfach: Um den gewünschten Branntkalk (CaO) zu gewinnen, muss aus dem Kalkstein (CaCO3) Kohlenstoffdioxid (CO2) gelöst werden. Die dafür notwendige Hitze von 1.400 - 1.500 Grad Celsius wird durch fossile Brennstoffe, zumeist Kohle, erzeugt. Für die Produktion von einer Tonne Zement werden einer aktuellen Studie des UN Environmental Programme zufolge im globalen Durchschnitt 842 Kilogramm CO2 freigesetzt.

Baustoff der Armen

Wenn die seit 4,5 Milliarden Jahren bestehenden chemischen Grundgesetze unseres Planeten auch die nächsten 30 Jahre in Kraft bleiben – wovon auszugehen ist – wird klar: Das avisierte Projekt „CO2-neutraler Beton“ ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dies erkennt zwischen den Zeilen auch der Lobbyverband Verein Deutscher Zementwerke e.V. an. Die Ende 2020 herausgegebene CO2-Roadmap geht selbst bei einem „ambitionierten Referenzszenario“, welches „sehr anspruchsvolle Annahmen“ bei CO2-Minderungstechnologien zugrunde legt, lediglich von einer Reduktion der Emissionen um 36 Prozent bis 2050 aus. Alle darüber hinausreichenden Hochrechnungen basieren auf dem Vertrauen in zukünftig sich entwickelnde Technologien und arbeiten gewissermaßen nach dem Prinzip Hoffnung.

Der globale Hunger nach Zement ist und bleibt gewaltig. Während die Weltbevölkerung in den letzten 65 Jahren um das Dreifache stieg, hat sich die produzierte Menge an Zement um nahezu das 34-fache erhöht. Die Zementindustrie war 2019 für drei der insgesamt 38 Gigatonnen CO2, und damit für knapp acht Prozent der weltweiten Emissionen, verantwortlich. Schätzungen zufolge könnten diese bis 2050 sogar auf fünf Gigatonnen ansteigen. OECD-Länder machen davon aber nur 10 Prozent aus. Der Architekturhistoriker Adrian Forty spricht von Beton auch als „Baustoff der Armen“. Denn auf der Baustelle bedarf es keiner hochtechnisierten Gerätschaften, und auch ungelernte Arbeitskräfte können die Aufgaben übernehmen.

Alexander Stumm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Kassel und Redakteur bei der Bauwelt.

Um die durch (Neo-)Kolonialismus geprägten strukturellen Ungleichheiten in den Ländern des Globalen Südens zu überwinden, sind neue Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser, Infrastrukturen, öffentliche und gewerbliche Bauten notwendig. Diese Entwicklung mit Hinweis auf die Klimakrise zu unterbinden, steht den europäischen Industrienationen nicht zu. Andererseits sind unter den vier globalen Zementriesen mit der Schweizer Holcim (21,4 Milliarden) und dem deutschen HeidelbergCement (17,6 Milliarden Euro Umsatz in 2020) zwei europäische Unternehmen ganz vorne mit dabei. Sie verdienen mit ihren global aufgestellten Konzernstrukturen im Globalen Süden kräftig mit. Immer wieder sehen sie sich dabei mit Vorwürfen der Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen, Kartellabsprachen, Korruption und der Verletzung lokaler Gesetze sowie internationaler Standards konfrontiert.

Für eine neue Öko-Kompetenz im Bauen

Ein Lösungsansatz ist der Übergang von mineralischen zu organischen Baumaterialien. Aus Kohlendioxid-Sicht ist Holz am interessantesten. Bekanntlich nutzen Bäume genügsam einfache Grundkomponenten aus Sonne, Luft und Erde, um Kohlendioxid in Biomasse umzuwandeln. Ein leistungsfähigeres Verfahren der Bindung und Speicherung des Treibhausgases ist kaum vorstellbar. Darin einen Ansatz für ökologisches Bauen zu erkennen, ist also der einfache Teil. Die Zunahme des Holzanteils im Gebäude funktioniert aber bisher vorwiegend nach dem Substitutionsprinzip. Kohlenstoffintensive Baumaterialien wie Beton oder Stahl werden schlicht durch Holzprodukte ersetzt. Dies mag einen positiven Effekt für das Klima haben. Aber es schöpft das eigentliche Kohlenstoffpotenzial des Materials Holz nicht aus.

Holz – sozusagen erstarrtes CO2 – ist ein nachwachsender Rohstoff. Eine wirklich nachhaltige Holzarchitektur würde das Wachstum und die sich gegenseitig verstärkenden Dynamiken einer artenreichen Waldbewirtschaftung miteinkalkulieren. Holzarten mit einem einheitlichen CO2-Äquivalent gegenzurechnen, greift zu kurz, denn die komplexen Kohlenstoffkreisläufe hängen auf vielfältige Weise mit lokalen Ökosystemen zusammen. Sie zu verstehen, ist ein Schlüssel für klimagerechtes Bauen. Eine nachhaltige Holzarchitektur würde zudem den Transport miteinpreisen, dessen Emissionen mitunter höher sein können als der in einem Holzbalken gebundene Kohlenstoff. Baumaterialien sind aber in der Regel standardisiert, ihre Lieferketten abstrakt und schwer nachzuvollziehen. Die Kohlenstoffbilanzierung von Bauprojekten wird durch die dünne Datenlage erschwert. Hier bedarf es neuer Regelungen, um Transparenz zu schaffen. Letztlich geht es um ein neues Selbstverständnis in der Architektur.  Die Baubranche verursacht circa 40 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen.

Architekt*innen und Ingenieur*innen stehen daher in einer besonderen Verantwortung. Um die weitergehenden ökologischen Herausforderungen im Anthropozän – in dem der Mensch zu einer weltumspannenden geologischen Kraft geworden ist – anzugehen, ist die Reduktion von Treibhausgasemissionen ein wichtiger, aber trotzdem nur ein Baustein. CO2 ist keine magische Formel. Das dynamische Gleichgewicht der Atmosphäre steht in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis mit menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen, Landschaften und Ökosystemen. Entscheidend für die Akteur*innen in der Bauwirtschaft ist deshalb die Herausbildung einer umfassenden Öko-Kompetenz.

Text / Alexander Stumm
Fotos / Titelfoto, Giacomo Morelli/ZRS Architekten Ingenieure; Foto 1, Sebastian Schels; Foto 2, Kuster Frey; Foto 3, Cécile Septet/KOZ architectes und ASP architecture; Foto 4, Martin Zeller