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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 18 | 2022 CO2

Reportage

Weniger ist genug: für eine landschaftsbezogene und klimagerechte Baukultur!

Mit weiterhin alleinig auf Wachstum und energieeffizienten Neubau ausgerichteten Strategien kommen wir nicht weiter. Wie entwerfen wir eine Welt, in der weniger genug ist? Und entsprechende Strategien keinen Verlust, sondern eine Steigerung von Lebensqualität bedeuten?

Wieviel Flächen- und Ressourcenverbrauch können wir uns angesichts des Klimawandels in Zukunft noch leisten? Die Bauindustrie sowie die Architekt*innen und Ingenieur*innen begegnen dieser Frage immer noch sehr unkritisch, denn wir leben davon, dass gebaut wird. Egal ob neue Stadtquartiere, Gebäude oder Parkanlagen: Wenn die Politik fordert, wir brauchen 400.000 zusätzliche Wohnungen im Jahr, schreien wir alle hurra und freuen uns über den Boom der Baubranche.

Das Problem dabei: Nach wie vor entstehen die allermeisten Wohnungen in Deutschland im Neubau, auf vorher unbebauten Böden, in Baugebieten am Stadtrand. Dadurch ist das Wohnen ein bedeutender Treiber der Flächenversiegelung in Deutschland und der durchschnittlichen Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsfläche um aktuell rund 52 Hektar pro Tag (im Mittel der Jahre 2016 bis 2019).

Das Ziel der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie ist es, diesen Anstieg bis zum Jahr 2030 auf unter 30 Hektar pro Tag zu begrenzen und bis 2050 keine weiteren Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke zu beanspruchen. Unbebaute und nachhaltig bewirtschaftete Böden leisten einen maximalen Beitrag zum Klimaschutz durch ihre Speicherung von CO2. Gleichzeitig helfen sie durch ihre Kühlwirkung und Wasserspeicherkapazität dabei, sich an die unvermeidlichen Folgen des Klimawandels mit mehr Hitzeperioden und Überflutungen anzupassen.

Das Dilemma der Wachstumsspirale

Trotz aller Bemühungen zur Reduzierung der Flächeninanspruchnahme wird aufgrund des steigenden Bedarfs an Wohnraum in Deutschland mehr und mehr gebaut: Im vergangenen Jahr wurden so viele Wohnungen fertiggestellt wie seit fast 20 Jahren nicht mehr. Durch die rasante Bautätigkeit wächst die Zahl der Wohnungen stärker als die Bevölkerung und dennoch herrscht eine zunehmende Wohnungsknappheit. Wie kann das sein? Der Grund dafür ist die seit Jahrzehnten ungebremst steigende Pro-Kopf-Wohnfläche um rund 0,2 Quadratmeter pro Jahr: Während 1995 die durchschnittliche Wohnfläche bei 36 Quadratmetern je Einwohner lag, sind es im Jahr 2020 bereits 47,7 Quadratmeter – verbunden mit den daraus resultierenden ungünstigen Auswirkungen auf Flächenversiegelung, Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen.

Auf Grundlage der Novelle des Klimaschutzgesetzes der Bundesregierung soll Deutschland bis 2045 treibhausgasneutral werden. Jedoch werden durch den weiterhin steigenden Flächen- und Raumbedarf des Bauens die eingesparten Erfolge, die das energieeffiziente Bauen und die energetische Gebäudesanierung erzielen, weitestgehend aufgehoben: Laut einer aktuellen Studie der DZ Bank stagnieren die direkten CO2-Emissionen des Gebäudebestands seit 2014 bei rund 120 Millionen Tonnen im Jahr. 

Antje Stokman ist freischaffende Landschaftsarchitektin, Professorin für Architektur und Landschaft an der HafenCity Universität Hamburg und Mitglied im Stiftungsrat der Hamburger Stiftung Baukultur.
Nutzung der Potenziale der gebauten Stadt

Die bereits gebaute Stadt ist ein gigantisches Lager vorhandener baulicher Ressourcen in Form von Gebäuden, Infrastrukturen, den darin gebundenen Materialien und gespeicherten „grauen Energie“. Es muss also darum gehen, eine grundsätzlich neue Haltung in Bezug auf den Umgang mit der bereits existierenden, gebauten Stadt zu entwickeln: Umbau statt Neubau, Modernisierung statt Abriss, räumliche und zeitliche Nutzungserweiterung und -überlagerung anstatt Monofunktionalität und Unternutzung. Entsprechende Forderungen stellen mittlerweile nicht nur Architects for Future, sondern sie wurden auch vom Deutschen Städtetag in seiner Handreichung zum „Nachhaltigen und suffizienten Bauen in den Städten“ beschlossen: Basierend auf messbaren Parametern und verbindlichen Zertifizierungsmethoden, muss die Priorität der kommunalen Bautätigkeit zukünftig auf dem Bestandserhalt und seiner Erneuerung liegen. Und nur, falls die objektiv nachgewiesenen funktionalen, energetischen und gestalterischen Anforderungen nicht im erneuerten Bestand erfüllt werden können, darf in einer zweiten Stufe eine Bestandserweiterung und ein Neubau als „ultima ratio“ in Betracht gezogen werden.

Zusätzlich werden stets Mehrfachnutzungen von Gebäuden und Freiräumen über ihren zugewiesenen Zweck hinaus durch funktionale und zeitlich flexible Nutzungserweiterungen angestrebt. Eine Trendwende beim Anstieg der privaten Wohnfläche kann nur gelingen, wenn die öffentlichen Räume der Stadt zu unserem gemeinsamen Wohnzimmer werden. Wir brauchen mehr Räume in der Stadt, wo sich Menschen begegnen und sich diese Räume aneignen können.

Bauliche, vegetative und soziale Verdichtung

Das bedeutet, wir müssen die Potenziale im Inneren der gebauten Stadt in den Blick nehmen, die Sorge um den Bestand in den Mittelpunkt allen Handelns stellen und die innere Stadt weiter verdichten – sowohl baulich und funktional als auch durch mehr Grün und qualitätsvolle öffentliche Räume. Das aktuell stark diskutierte Konzept der „15-Minuten-Stadt“ beschreibt eine Abkehr von der funktionsgetrennten Stadt hin zu einer funktionsgemischten Stadt, in der alle Wege des Alltags in weniger als 15 Minuten bestritten werden können. Dabei stehen die bauliche Verdichtung, stärkere Durchgrünung und höhere Lebensqualität nicht im Widerspruch zueinander, wenn man alle Oberflächen der gebauten Stadt inklusive ihre Straßenräume, Dächer und Fassaden als begrünte, klimaaktive und nutzbare Stadträume umnutzt gestaltet. Entsprechende Strategien verfolgen und erproben bereits diverse Städte wie z. B. Barcelona mit seinen Superblocks, München mit seinen Sommerstraßen oder die Stadt Hamburg mit seiner Gründachstrategie.

Das bedeutet auch, dass neue Formen der Zusammenarbeit mit der Stadtgesellschaft notwendig sind, da wir uns in bestehenden Nachbarschaften und Quartieren der gebauten Stadt bewegen. Ko-Kreation und Ko-Produktion wird dann zum selbstverständlichen Teil jeder Planung. Die Verwendung lokaler Ressourcen, die Einbeziehung von ortsspezifischem Wissen und die Aufwertung handwerklichen Know-hows minimieren den ökologischen Fußabdruck des Bauens und leisten einen Beitrag zur lokalen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Es geht darum, ein Verständnis von Stadt als gemeinschaftlichem Handlungs- und Gestaltungsraum zu fördern, der die verschiedenen, oft auch divergierenden Individualinteressen integriert und Ausdruck eines gemeinwohlorientierten Miteinanders ist.

Text / Antje Stokman
Fotos / Titelfoto Catherina Hess/Süddeutsche Zeitung Photo; Foto 2, Wolf Sondermann; Foto 3 BUE/Isadora Tast