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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 19 | 2022 Under Construction

Dialog l Stadt und Digitalisierung

Die Digitalisierung erodiert Herrschaftswissen

Die hohe Geschwindigkeit der digitalen Transformation löst eine Trägheit in der menschlichen Adaption aus. Unternehmen und Städte bleiben hinter ihrem digitalen Potenzial zurück. Interview mit Alain Thierstein.

Die andauernde Weiterentwicklung digitaler Technologien prägt unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Was verstehen Sie unter der digitalen Transformation?

Ich verstehe darunter drei miteinander verknüpfte Phänomene: die technologische Ebene, die hohe Dynamik, die wir erleben. Von Mobilgeräten, die uns ständig auf den neuesten Stand bringen, über Elektronik bis hin zu Steuerungssystemen, erfahren wir eine Art permanente Beschleunigung. Die zweite Ebene ist die Reaktion auf diese Beschleunigung durch die Nutzer*innen. Sie verhalten sich sehr selektiv. Einerseits gibt es die ‚Early Adopters‘, die auf der Welle der neuen Möglichkeiten surfen, andererseits die, die überfordert sind und nicht alles mitmachen. Es gibt also eine unterschiedliche Adaptationsgeschwindigkeit der Nutzergruppen. Diese Segmentierung bringt eine Verzögerung. Und damit meine ich nicht nur die Menschen als Individuen oder Haushalte, sondern auch die Unternehmen.

… Und die dritte Ebene?

Die dritte Ebene hat mit räumlicher Entwicklung und Gestaltung zu tun. Wie transformiert sich die gebaute Umwelt angesichts der Digitalisierung? Bislang sehen wir nichts. Auf der Straße bemerke ich mit Ausnahme von ein paar E-Scootern nicht, dass die digitale Transformation Einzug gehalten hat. Wir haben nach wie vor die gleiche Aufteilung im Straßenraum und die Häuser sehen aus wie immer. Auch neu gebaute Häuser wirken nicht so, als wäre hier irgendetwas architektonisch Neues entstanden. Diese Trägheit führt zu asynchronen Wahrnehmungen und erschwert kollektives Handeln in Richtung proaktiver digitaler Transformation. 

Alain Thierstein ist Professor für Raumentwicklung an der TU München mit Schwerpunkt digitaler Transformation und Stadtentwicklung. 
Wird sich das zeit- und ortsunabhängige Arbeiten nicht baulich in Büroimmobilien oder privaten Arbeitsorten widerspiegeln?

Das ‚Working from Home’ wird bleiben. Wir haben dazu eine Potenzialstudie für die Metropolregion München gemacht und festgestellt, dass der in den Medien der letzten zwei Jahre kolportierte Trend, aufs Land zu ziehen, nirgendwo sichtbar ist. Der Mensch hat nach wie vor die gleichen Standortwahlfaktoren: gute Erreichbarkeit, sei es durch Straßen oder den ÖPNV, Wohnkosten und Breitbandanbindung. Grundsätzlich werden somit nach wie vor gut ausgestattete zentrale Lagen bevorzugt. Der Trend könnte Konsequenzen für die Kommunen, die Zuzug planen, haben, aber die Frage ist, ob das in der Art des Bauens oder Städtebaus neue Formen annimmt. Ich vermute, dass mehr Mischnutzung kommt, mehr Dichte, Freiräume und Aufenthaltsqualitäten. Aber das könnte man auch durch schlaue Einsicht und ohne die digitale Transformation erreichen.

Zurück zum Zögern der Menschen: Digitale Planungsmethoden und Baustellen können Kommunikation, Sicherheit und Effizienz erhöhen. Warum spüren wir in unserer Branche trotz der offensichtlichen Potenziale gegenüber Innovation eine Skepsis?

Die vorhandenen und möglichen Technologien werden nur langsam umgesetzt. Es fehlt an in der Breite wirkenden Vorbildsituationen. Sowohl die eigene Veränderung als Individuum als auch das Change-Management in der Organisation der Firma sind aufwendig. Denn man muss überlegen: Wie organisieren wir uns neu? Das Baugewerbe ist nicht nur männerdominiert, sondern auch traditionell und hierarchisch. Diese Hierarchisierungen produzieren Herrschaftswissen, welches heute durch die Digitalisierung erodiert. Digitale Werkzeuge – zum Beispiel ‚Building Information Modeling‘ oder ‚Digital Twins‘ – funktionieren nur, wenn alles, was an Datenströmen generiert wird, im gleichen Datenformat, also in einer Data Factory‘, vorhanden ist. Es entsteht ein offenes, vernetztes System. Der damit verbundene Verlust von Herrschaftswissen beeinträchtigt die etablierten Strukturen, Organisationsformen und auch Selbstverständnisse der Menschen sowohl in der öffentlichen Verwaltung als auch in der Privatwirtschaft. Die Befürchtung ist, etwas zu verlieren, ohne zu wissen, was man gewinnt. Deshalb sind Change-Prozesse im Unternehmen und in der Gesellschaft schwierig. Sie brauchen Zeit. 

Welche Rolle spielen Ingenieur*innen bei der Digitalisierung?

Auf der Ebene der technischen Entwicklung haben wir keine Probleme. Aber beim Management hakt es. Unternehmen denken operativ, sie müssen stets erfolgreich sein. Für integrierte Projektsteuerung, Projektplanung, Bauprozess-Management gibt es schon seit langem Managementmodelle, um das systemisch zu betrachten. Wieso werden sie nicht implementiert? Man muss die Beteiligten einer Organisation dazu bringen zu sehen, dass das Neue mehr bringt als das Alte. Strukturen müssen transparenter werden. Wenn das alle machen, gewinnen wir insgesamt Reaktionsfähigkeit oder Agilität.

Was kommt bei der Digitalisierung der Funktionen der Stadt heraus? Wird die Stadt effektiver, nachhaltiger oder responsiver?

Ja, ich glaube schon, dass wir einiges davon sehen werden. Zum Beispiel werden Verkehrs-Apps tatsächlich den realen Verkehrsfluss zeitgenau anzeigen. Menschen werden verlässliche, integrierte Mobilitätsangebote mit Apps nutzen. Das ist eine Erleichterung und eine Selbstverständlichkeit. Dann werden hoffentlich viele Dinge auch effizienter durch Digital-Twin-Technologien, die modellhafte Abbildungen von allen Datenströmen, die in einem Stadtraum anfallen, simulieren. So könnten viele technische Systeme im Untergrund, die wir gar nicht sehen – wie Wasser, Elektrizität, alle Arten von Energien, Versorgung und Entsorgung –, noch optimierter untereinander abgestimmt werden.

Die Geschwindigkeit der digitalen Veränderungen hat mit dem Wechsel von analoger Technologie zur digitalen Elektronik zugenommen. Das Verhalten und die Präferenzen von Individuen und Firmen ändern sich viel langsamer als die Technologien, die Stadt an sich am langsamsten.
Werden wir mit der digitalen Stadt besser interagieren können?

Die Stadt besteht nicht nur aus Gebäuden und Technik. Interagierende Menschen machen das Urbane aus. Klimafragen, Grünraumfragen, alles, was Technik und exakte Wissenschaften anbelangt, können wir simulieren. Aber wie gehen die Menschen mit der stärkeren sozial-ökonomischen Segmentierung in der Stadt um? Wie funktioniert die 5-Minuten-Nachbarschaft? Welche Bedürfnisse entwickeln die Menschen, wenn sie mehr zu Hause sind? Wie nutzen sie die unmittelbare Umwelt? Das ist alles nicht über Systeme simulierbar. Da täuscht man sich stark über die Mächtigkeit dieser Möglichkeiten. Es wird nach wie vor viel persönlichen Austausch zwischen Fachleuten und Bevölkerungsgruppen zum Notwendigen und Machbaren geben. Techniksysteme selber simulieren uns nicht die Stadt der Zukunft.

Illustrationen / ÖROK (2022): Bruck, E., Gartner, F., Scheuvens, R., Güntner, S., Jäger, M., Miessgang, M. & Mitteregger, M.: Räumliche Dimensionen der Digitalisierung. Fachliche Empfehlungen & Materialienband. ÖROKSchriftenreihe Nr. 213