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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 19 | 2022 Under Construction

Artikel l Mythos Baustelle

Auf der Baustelle lernen Häuser das Fliegen

Ein Haus schwebt in der Luft. Man sieht die Lampe über der Eingangstür, die aufgeklappten Fensterläden, die Regenrinne. Zwischen Punktfundamenten wachsen Wurzeln aus der Hausunterseite. Diese Installation von Leandro Erlich mit dem Titel „pulled by the roots“ war 2015 im Rahmen der Ausstellung „Die Stadt ist der Star – Kunst an der Baustelle“ in Karlsruhe zu sehen. Natürlich schwebt das Haus nicht aus eigener Kraft. Es wird von einem großen Kran in der Luft gehalten und trotzdem wirkt sein Anblick wie nicht von dieser Welt.

Das schwebende Haus stellt die Leichtfertigkeit in Frage, mit der wir unserer gebauten Umwelt begegnen. Als wären die Gefüge aus Böden, Wänden und Decken, die uns umgeben, ein natürlich gewachsener Lebensraum. Diese Leichtfertigkeit hat mit dem im Wort steckenden „fertig“ zu tun. Anders als die Lebensmittel, von denen wir uns ernähren, oder die Kleidung, die wir tragen, sind die Räume, in denen wir leben, von Anfang an da. So vergisst man schnell, dass auch diese Räume teil eines Prozesses sind, der weder „leicht“ noch „fertig“ ist und mit einem Unternehmen voller Unsicherheiten und Wagnissen beginnt: der Baustelle.

Auch das Wort „Baustelle“ erzählt viel über sich selbst. Es verbindet den „Bau“, der sowohl den Prozess des Bauens als auch sein Produkt, das Gebäude, in sich fasst, mit der „Stelle“, dem Ort, an dem gebaut werden soll. Jede Stelle, an der etwas Gebautes entsteht, war schon vorher ein Ort. Die Baustelle ist Ausdruck einer Veränderung, die mit dem Neudenken dieses Ortes einsetzt. Sie verkörpert den Aufbruch im Sinne einer mutigen Bewegung nach vorn, genauso wie den Bruch mit dem, was vorhanden ist. Wie das vom Kran entwurzelte Haus, offenbart die Baustelle die physische Wucht der Bauwerke, die später den scheinbar selbstverständlichen Hintergrund unseres Alltags bilden.

Die Baustelle zeigt die Wunde, die einem Ort zugefügt werden muss, damit ein Bauwerk entstehen kann. Für die Dauer der Baustelle, wird der Ort, an dem sie sich befindet, zum Unort. Sie zeigt die Ressourcen, die für das Entstehen eines Bauwerks nötig sind. Die Rohstoffe, die später hinter weiß gestrichenen Wohnzimmerwänden verschwinden, liegen offen dar, müssen ausgesucht, transportiert und gefügt werden. Die Baustelle zeigt die Arbeitskraft, die mit einem Bauwerk verbunden ist. Auf ihr wird die Hybris eines Vorhabens sichtbar, das die menschliche Körperkraft um ein Vielfaches übersteigt. Eine Baustelle kann nur durch die Zusammenarbeit vieler Akteur*innen funktionieren, die aufeinander angewiesen sind.

So konfrontiert uns die Baustelle mit unserer Verantwortung für das Bestehende, das Entstehende und den Prozess, der dazwischen liegt. Genau wie der Anblick des schwebenden Hauses, rüttelt sie auf, löst eine gewisse Verunsicherung aus, aber auch Begeisterung für die Kühnheit des Vorhabens. In einer Zeit, deren Herausforderungen uns in eine überforderte Lähmung versetzen, erinnert die Baustelle daran, dass für den Einzelnen unmöglich scheinendes durch Zusammenarbeit möglich wird, dass Einsatz sich auszahlt und dass Rückschläge kein Zeichen für Versagen sind, im Gegenteil, zu einem großen Vorhaben dazugehören. Die Baustelle ist ein Ort des Möglich-Machens. Auf der Baustelle lernen Häuser das Fliegen. 

Text / Hanna Sturm
Foto / Studio Leandro Erlich