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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 19 | 2022 Under Construction

Dialog | IPA-Verträge

Neue Spielregeln

In Großprojekten ist eine zunehmende Unzufriedenheit der beteiligten Parteien spürbar. Termin- und Kostenüberschreitungen, eine ineffiziente Projektabwicklung, eine Kultur des Misstrauens und fehlende Transparenz prägen oft den Projektalltag. Die Integrierte Projektabwicklung (IPA) mit Mehrparteienvertrag ist eine neue Organisationsform, welche durch ein lösungsorientiertes Handeln zu einer besseren Zusammenarbeit und mehr Innovationen führen soll. Es ist an der Zeit, konventionelle Projektabwicklungsmodelle insbesondere bei komplexen Bauvorhaben zu überdenken und etwas Anderes auszuprobieren, um Bauprojekte erfolgreicher realisieren zu können, meinen Horst Roman-Müller, Simon Christian Becker und Christian Baehrecke.

Was ist Integrierte Projektabwicklung?

Horst Roman-Müller: Das wichtigste bei einem IPA-Vertrag, also einem Mehrparteienvertrag, ist die frühzeitige Einbindung der Schlüsselbeteiligten nach der Festlegung des Nutzerbedarfsprogramms und des Budgets. Dabei unterzeichnen alle Kernbeteiligten denselben Vertrag. So wird die klassische Trennung zwischen der Planung und der Bauausführung aufgehoben. Der IPA-Vertrag weicht insofern von einem traditionellem Vertrag ab, da dieser nicht mehr gegenseitige Rechte und Pflichten samt Folgen von Verstößen definiert, sondern Spielregeln zur Definition des Bausolls und der Realisierung des Projekts festlegt.

Wer entscheidet was in dieser Projektstruktur?

Horst Roman-Müller: Das Prinzip der Einstimmigkeit ist bei der IPA hervorzuheben. Das heißt, dass auch der Bauherr das gleiche Stimmrecht hat wie die anderen Beteiligten. Es gibt kein „Ober sticht Unter“ oder Quorum, sondern das Prinzip der Einstimmigkeit. Dadurch entsteht eine Projektkultur, in der nach dem Besten für das Projekt entschieden wird. So versucht dieses Modell, individuelle wirtschaftliche Interessen zu überwinden.

Schafft diese Projektorganisationsform eine engere Zusammenarbeit?

Christian Baehrecke: Es schafft eine engere Zusammenarbeit aller entscheidenden Projektakteure von Projektanfang bis -ende ohne ständige Wechsel, welche wir sonst bei langlaufenden Großprojekten oft sehen. Erste Pilotprojekte, wie der Neubau des ICE Werk Cottbus oder der Sanierung der alten Kattwykbrücke Hamburg, konnten wir bereits begleiten und ein durchaus positives Fazit ziehen. Besonders der kollegiale Umgang im Sinne des Projekterfolgs ist aufgefallen.

Horst Roman-Müller: Expert*innen sagen, bei IPA-Verträgen entstehe ein neues Wertesystem, ein neues Mindset und offene Fehlerkultur, eine kooperative Haltung. Die Nähe im Team, die Co-Location, die kurzen Entscheidungswege ermöglichen einen anderen, offenen Austausch. Transparenz und psychologische Sicherheit sind typische Elemente dieses Projektmodells.

Was bedeutet das für das Risikomanagement?

Christian Baehrecke: Die Identifizierung der Projektrisiken erfolgt gemeinsam während der einzelnen Phasen der Projektabwicklung. So ist in der Zielkostenvereinbarung zum Ende der Planungsphase eine gemeinsam ermittelte Risikorückstellung enthalten. Im Rahmen der integrierten Bauausführung wird diese dann aufgebraucht. Grundsätzlich ist bereits erkennbar, dass ein umfassendes, projektdienliches Risikomanagement von Anfang an notwendig ist und alle Projektbeteiligte ihre Erfahrungen einbringen können.

Wie wird in dieser Konstellation budgetiert und entlohnt?

Horst Roman-Müller: Alle Beteiligten erarbeiten zusammen eine Planung, auf deren Basis dann Zielkosten vereinbart werden. Das folgt nicht den Leistungsphasen der HOAI oder der sukzessiven Abarbeitung und Detaillierung, sondern man erarbeitet nur das, was notwendig ist, um die Zielkosten zu bestimmen. Neu ist auch, dass die Leistungen in der Planungsphase auf Basis des Stundensatzes vergütet werden. Somit werden alle Selbstkosten entlohnt. Außerdem gibt es hierfür eine anderes Haftungssystem als bei üblichen Verträgen.

Wie wird mit Haftung umgegangen?

Horst Roman-Müller: Das besondere an dem IPA-Modell ist, dass für die Planungsphase ein weitgehend gegenseitiger Haftungsverzicht ausgesprochen wird. Dieser Haftungsverzicht schließt jedes Mitglied eines Planungsteams ein und erstreckt sich auf alle in der Planungsphase erbrachten Leistungen. Darüber hinaus gibt es die Empfehlung, dass ab dem Baubeginn eine Projektversicherung abgeschlossen wird.

Die Gretchenfrage: Gibt das Vertragsmodell mehr Raum für Innovationen?

Simon Christian Becker: Dadurch, dass die Haftung in Anführungszeichen wegfällt, hat man ein viel höheres Innovationspotenzial. Man kann neue Sachen ausprobieren, weil man am Ende nicht mit der Angst handelt, dass entsprechende Mehrkosten generiert werden, die selber zu tragen sind. Ein Haftungsverzicht ist ein Innovationstreiber. Auch die Teamzusammensetzung fördert Innovation. Darüber hinaus werden die Risiken beim Mehrparteienvertrag kollegial aufgeteilt. Dadurch entsteht eine größere Bereitschaft, Risiken einzugehen, vielleicht mit einer neuen Bauprozessabwicklung oder neuen Baumaschinen.

Wo liegen die Herausforderungen in der Anwendung von IPA-Verträgen?

Simon Christian Becker: In dieser Projektabwicklungsform bindet man alle Beteiligten zu einem sehr frühen Zeitpunkt in das Projekt ein. Dadurch entstehen schon am Anfang relativ hohe Kosten für den Bauherren, was zum Teil abschreckend wirken kann. Ein weiterer Punkt ist, dass das Modell noch nicht häufig praktiziert wurde. Es muss erst ein Sinneswandel eintreten, sodass die die Bauherren bereit sind, in dieser Form auszuschreiben. Erste IPA-Erfahrungen zeigen durchaus kostenstabile und ins-besondere termingewinnende Projektverläufe – was die Methode auch für den Bauherrn attraktiv macht.

Warum lohnen sich die höheren Investitionen am Anfang?

Simon Christian Becker: Wenn Knowhow schon zu einem frühen Zeitpunkt durch das Bauunternehmen eingebracht wird, können mögliche Komplikationen in der Planung identifiziert und Anpassungen getroffen werden. Dadurch können Kosten in der Ausführungsphase, in der die Einflussnahme auf die entstehenden Kosten wesentlich geringer ist, reduziert werden. Wenn wir hingegen in der Ausführungsphase sind und Änderungen vornehmen, steigen die Kosten exponentiell an.

Lesen Sie mehr im Buch „Integrierte Projektabwicklung (IPA) – Ein Schnelleinstieg für Bauherren, Architekten und Ingenieure“ von Simon Christian Becker und Horst Roman-Müller, Springer Vieweg Verlag 2022.
Wie werden Projektbeteiligte in der Bauwirtschaft dazu befähigt, mit Modellen der IPA Bauvorhaben zu realisieren?

Christian Baehrecke: Grundsätzlich baut die integrierte Projektabwicklung auf digitalen Methoden zur Projektabwicklung wie BIM oder Lean Management auf. Das heißt, viele bringen die grundsätzlichen Voraussetzungen schon mit. Aber es muss ein Umdenken bei der Projektbearbeitung im Kopf stattfinden - weg von der Konfrontation. Des Weiteren gibt es das IPA-Zentrum, das Kompetenzzentrum der Integrierten Projektabwicklung. Das Zentrum bietet eine Plattform für Fachgruppen, in den unterschiedliche Partner*innen vertreten sind – Planungsbüros, Baufirmen, Rechtsanwaltsbüros, wissenschaftliche Begleitung – die Themen wie Kultur, Vergabe und Vergütung diskutieren und weiterentwickeln. Schüßler-Plan ist auch dabei und wirkt in einzelnen Fachgruppen bei der Erstellung der Leitlinien mit.

Wie schafft man den Paradigmenwechsel von klassischer HOAI- und VOB-Bearbeitung von Projekten hin zu einem neuen IPA-Denkmodell? Wie integriert man das im Unternehmen?

Horst Roman-Müller: Die einseitige Anordnung von IPA durch das Management führt wahrscheinlich ebenso wenig zum Projekterfolg wie der einseitige Wunsch von Mitarbeiter*innen gegenüber der Unternehmensführung. Weder Bottom-Up noch Top-Down allein funktioniert.

Simon Christian Becker: Aus dem Change Management kommend gibt es die sieben Phasen der Veränderung. Aktuell befinden wir uns schon in der fünften Phase, dem Ausprobieren. Wir sind also auf einem guten Weg zur Integration der IPA.

Christian Baehrecke: Wenn wir es schaffen, weitere IPAs kostenstabil und mit Zeitgewinn abzuschließen, wird sich die Partnerschaft für gewisse Projekttypen als attraktive Option etablieren, insbesondere für Großprojekte im Rahmen der Mobilitäts- und Energiewende. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit und Projektabwicklung leben wir bereits bei Schüßler-Plan und gerade die neue Generation legt darauf noch mehr Wert. 

Simon Christian Becker
studierte Bauingenieurwesen an der TU Darmstadt. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Projektmanagement und Bauwirtschaft an der Universität der Bundeswehr München und Lehrbeauftragter an der Hochschule RheinMain. 

Horst Roman-Müller
studierte Bauingenieurwesen an der TU Darmstadt. Er war als Projektleiter bei Großprojekten für die öffentliche und private Hand in Deutschland tätig. Seit 2014 ist er Professor für Projektmanagement und schlüsselfertiges Bauen an der Hochschule RheinMain.

Christian Baehrecke
hat Wirtschaftsingenieurwesen mit Schwerpunkt Bauwesen an der Universität Leipzig studiert. Seit 2010 ist er im Projektmanagement bei Schüßler-Plan am Standort Karlsruhe tätig. Sein Fokus liegt auf komplexen Infrastrukturprojekten wie der Kombilösung Karlsruhe.

Interview / Marie Bruun Yde
Foto und Visualisirung / Visualisierung, Vectorvision; Foto, Schüßler-Plan