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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 20 | 2023 Gemeinsam

Artikel | Bürgerbeteiligung

Partizipation, die Raum schafft

Die Umsetzung von größeren Infrastrukturmaßnahmen oder städtebaulichen Projekten ist heute beteiligungsfrei nicht mehr denkbar. Doch immer wieder verlaufen Partizipationsprozesse unbefriedigend für Vorhabenträger*innen oder Beteiligte. Unser Autor Jörg Sommer präsentiert sechs zentrale Erkenntnisse aus zehn Jahren Beteiligungspraxis zur Förderung produktiver Zusammenarbeit. Daraus lässt sich für Unternehmen lernen: Statt Zwang oder Wettbewerb bietet der strategische Zusammenschluss verschiedener Interessensgruppen qualitative und wirtschaftliche Vorteile. Um gemeinsame Ziele zu erreichen, muss man aber Konflikte aushalten können.

Die Realisierung von größeren Bau- und insbesondere Infrastrukturprojekten ist heute alles andere als ein konfliktfreier Raum. Beteiligung aber ist genau das: Konfliktmanagement.

Jörg Sommer
Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung

Seit über einer Dekade wird in Deutschland immer mehr, intensiver und qualitativ besser beteiligt: Allein die Deutsche Bahn hat zum Beispiel im Jahr 2021 über 200 größere Beteiligungsveranstaltungen organisiert, über 10.000 Anfragen von Bürger*innen beantwortet, 3,8 Millionen Publikationen verteilt, 35 Webseiten zu größeren Projekten angeboten und über 400 Dialogtermine mit Interessierten durchgeführt. Und doch wird beinahe bei jedem Vorhaben neu diskutiert, ob mehr Beteiligung tatsächlich auch für mehr Akzeptanz sorgt. Das tut sie. Aber nur, wenn sie gut gemacht ist.

Das liest sich einfach, ist aber nicht unkomplex. Denn gerade die Realisierung von größeren Bau- und insbesondere Infrastrukturprojekten ist heute alles andere als ein konfliktfreier Raum. Beteiligung aber ist genau das: Konfliktmanagement. Und je konfliktreicher, desto gefährlicher sind Fehler. Für Michael Baufeld, Senior Experte, Grundsätze Stakeholdermanagement und -kommunikation bei der  DB Netz AG, hat Beteiligung vor diesem Hintergrund drei wichtige Aufgaben: „Sie muss informieren, konsultieren und Möglichkeiten zur Mitgestaltung bieten.“

Tatsächlich sind Information und Konsultation alleine noch keine Beteiligung, sondern sogenannte Vorstufen zur Beteiligung. Sie sind nötig, um Beteiligung gut werden zu lassen, doch erst echte Mitgestaltung bietet die Chance auf die Erzielung von Einvernehmen. Die Zeiten, in denen reine Informationskampagnen genügten, um breite gesellschaftliche Akzeptanz für Vorhaben zu erreichen, sind lange vorbei. Wir wissen heute viel mehr über Beteiligung als vor zehn Jahren. Wir haben Erkenntnisse, was funktioniert, wann es funktioniert, wie es funktioniert – und warum manches krachend scheitert.

Sechs dieser Erkenntnisse wollen wir intensiver betrachten, denn diese sind von herausragender Bedeutung. Dabei geht es um Erwartungen, die von vielen Vorhabenträger*innen mit Bürgerbeteiligung verknüpft werden. Zwei dieser Erwartungen führen uns regelmäßig in die Irre. Vier helfen uns dabei, sie erfolgreich zu machen. Beginnen wir mit den ersten beiden:

1. Beteiligung ist nicht Akzeptanzbeschaffung

Wer beteiligt, um Akzeptanz für längst beschlossene Vorhaben zu erreichen, kann es auch gleich lassen. Denn dieses Motiv führt unmittelbar und regelmäßig zu inhaltlichen Fehlern, mangelnden Ressourcen, manipulativen Methoden und frustrierten Teilnehmer*innen. Das Wesen von Beteiligung ist Deliberation, also Diskurs mit Verhandlungscharakter. Dazu gehört auch der erklärte Wille der Beteiligenden, dazuzulernen. Steht das Ergebnis fest und die Beteiligung dient lediglich als legitimatorisches Beiwerk oder gar als didaktische Bürgerbelehrung, erleidet der Prozess – das haben wir in der vergangenen Dekade gelernt – Schiffbruch.

2. Beteiligung beseitigt keine Konflikte

Beteiligung wird schwierig, wenn ihr ein falsches Verständnis von Konflikten zugrunde liegt. Konflikte sind kein Problem für Beteiligung, sondern ihr Treibstoff. Bei Beteiligung geht es immer um Konflikte, um unterschiedliche Einschätzungen, Erwartungen, Interessen. Genau darum gibt es Beteiligung. Gäbe es keine Konflikte, bräuchte es sie nicht. So wie die repräsentative Demokratie keine Konflikte löst, sondern sie gesellschaftlich handhabbar macht, so ist es auch nicht die Aufgabe der Beteiligung, Konflikte zu vermeiden, aus dem Weg zu schaffen oder gar zu ignorieren. Beteiligung ist diskursives Konfliktmanagement. Nicht mehr, nicht weniger. Diese beiden Erwartungen sind also gefährlich: Wenn Beteiligung Akzeptanz beschaffen und Konflikte vermeiden soll, scheitert im Regelfall eines von beiden. Der Beteiligungsprozess oder das Vorhaben der Beteiligenden. Oder beides.
Im Folgenden kommen wir zu den vier Erwartungen, die wir an Beteiligung haben sollten, wenn wir wollen, dass sie nachhaltig erfolgreich wird.

Jörg Sommer ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung und Direktor des Berlin Institut für Partizipation. Er gibt unter anderem das in zweijährigem Rhythmus erscheinende „KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG“ heraus. Seit 2020 publiziert er den kostenlosen wöchentlichen Newsletter demokratie.plus zu Fragen der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
3. Beteiligung muss frühzeitig erfolgen

Gelingende Beteiligung beginnt im frühen Planungsstadium. Dann ist die Ergebnisoffenheit am größten, die Chance auf qualitative Verbesserung vorhanden und die Verwerfungen sind am geringsten. Außerdem gibt es in diesem Stadium die Möglichkeit, nicht nur zu den eigentlichen Plänen, sondern auch zu den Prozessen zu beteiligen. Denn Beteiligung auf Augenhöhe gibt es nur, wenn nicht nur eine Seite die Spielregeln bestimmt.
Deshalb wird der Beteiligungsrahmen für die gesamte Projektphase gemeinsam mit den Beteiligten erarbeitet und nicht vorgegeben. Entsprechend ist Beteiligung kein Prozess-Meilenstein, der irgendwann abgehakt wird, sondern Grundlage von Beteiligungskultur – die im Idealfall auch die gesamte Umsetzungsphase begleitet. Grundsätzlich sollte Beteiligung also nicht nur so früh wie möglich beginnen, sondern auch so lange wie möglich andauern. Man kann Beteiligung nie zu früh starten, aber zu früh beenden.

4. Beteiligung muss breit sein

Beteiligung nur anzubieten und dann darauf zu hoffen, dass nur die „üblichen Verdächtigen“ kommen, wird immer wieder praktiziert, funktioniert aber nicht. Beteiligung ist kein Angebot, sondern eine Aufgabe von Politik, Verwaltung und eben auch von Vorhabenträger*innen. Es ist ihre Aufgabe, zu recherchieren, wer betroffen sein könnte und deshalb zu beteiligen ist. Bei bestimmten Gruppen reicht es auch nicht, sie über die Medien einzuladen, sie müssen gezielt angesprochen und motiviert werden.
Somit bleibt die Herausforderung, Menschen ein Beteiligungsangebot zu machen, wenn sie einen Beteiligungsimpuls verspüren. Oft erfahren Betroffene spät von Vorhaben und Beteiligungsangeboten – und irgendeine Gruppe vergisst man fast immer. 

5. Beteiligung muss gut gemacht sein

Frühe und breite Beteiligung nutzt nichts, wenn sie nicht gut gemacht ist. Und wir wissen heute, was gut ist: Die „Allianz Vielfältige Demokratie“ hat zehn Grundsätze für die Qualität von Beteiligung entwickelt, die entsprechende Arbeitshilfe ist kostenlos über deren Webseite zu beziehen. Im Kern geht es darum, den Prozess offen, also flexibel zu halten und die Beteiligten nicht zu Objekten einer Dramaturgie zu machen, sondern als Partner*innen einer gemein-samen Deliberation zu sehen. So ist es erforderlich, Konflikte anzunehmen, keine falschen Vorstellungen über den Wirkungsrahmen zu wecken, Informationen als Grundlage und nicht als Manipulationsmittel zu sehen und vor allem: wirklich miteinander in den Diskurs zu kommen. Beteiligung ist deshalb auch keine Dienstleistung, die man extern delegiert, sondern ein Prozess, an dem sich auch die Beteiligenden beteiligen müssen.

6. Beteiligung muss wirken können

Zu guter Letzt geht es bei Beteiligung immer um Wirkung. Es ist nicht „gut, dass wir darüber gesprochen haben“, sondern „gut, dass wir etwas bewegt haben“. Ziel ist deshalb nicht die Akzeptanz vorgegebener Pläne, sondern Entwicklung akzeptierbarer Pläne. Dazu gehört von Anfang an Klarheit über den Wirkungshorizont und im Nachhinein eine seriöse Dokumentation der tatsächlichen Wirkung sowie eine Berichterstattung gegenüber Öffentlichkeit und Beteiligten. Werden Beteiligungsergebnisse nicht umgesetzt, kann es dafür gute Gründe geben. In diesem Fall müssen sie aber transparent gemacht werden, nach dem Prinzip des „do it or explain it“.

Fazit: Gute Beteiligung ist ein Segen – schlechte wird rasch zum Fluch

Sollten wir also zehn Jahre Beteiligungserfahrung in einem Satz zusammenfassen, würde er so lauten: Die Qualität, der Erfolg und damit auch die Akzeptanz von Beteiligung hängen davon ab, dass sie früh beginnt, breit beteiligt, gut aufgesetzt und letztlich wirksam ist. Dies sind, kompakt zusammengefasst, die zentralen Lektionen, die wir in der Beteiligung gelernt haben. Wobei dieser Lernprozess eben weder abgeschlossen ist noch synchron verlief oder verläuft.
Nach wie vor werden Tag für Tag irgendwo in Deutschland gute, ja ausgezeichnete Beteiligungsprozesse, aber eben auch missglückte Akzeptanzbeschaffung, wirkungslose Gesprächssimulationen, als „Dialoge“ verkaufte PR-Kampagnen und desinteressierte NGO-Anhörungen durchgeführt. Insgesamt ist der Trend allerdings positiv, nicht nur was den Umfang, sondern auch was Vielfalt und Qualität von Beteiligung angeht. Wir beteiligen heute mehr, intensiver und besser. Aber wir lernen noch immer jeden Tag dazu. Oft aus Erfolgen, manchmal auch aus Fehlern. Letztlich ist die Umsetzung insbesondere von größeren Infrastrukturmaßnahmen heute beteiligungsfrei nicht mehr denkbar. Und von erfahrenen Vorhabenträger*innen auch nicht mehr gewollt.
So setzen zum Beispiel die Unternehmen der bundesweiten Dialoggesellschaft, zu der mehrere große Vorhabenträger*innen und eben auch die Deutsche Bahn gehören, seit mehreren Jahren auf vielfältige Beteiligungsangebote. Auch weil sie gelernt haben, dass gute Beteiligung tatsächlich zur Beschleunigung von Vorhaben beitragen kann.

Text / Jörg Sommer
Foto / Dirk Krüll