Magazin der Schüßler-Plan Gruppe
Ausgabe 20 | 2023 Gemeinsam
Ich würde die These wagen, dass die zukünftige Stadtplanung Tiere wieder mehr in den Fokus nimmt. Vorher hatte man sie stark vergessen. Wer weiß etwas über Vogelschlag? Dabei wissen wir, dass viele Vögel wegen Glasscheiben sterben. Da helfen keine schwarzen Vogelsilhouetten in Form von Aufklebern, die Vögel fliegen trotzdem gegen die Scheibe. Eine Glasfassade braucht eine gewisse Struktur, damit Vögel sie nicht als durchsichtig wahrnehmen. Mit solchen Themen sollten Architektur und Stadtplanung sensibler umgehen. Der Turmfalke brütet in Türmen, bei entsprechender Planung kann für ihn auch in einem Hochhaus ein Nistplatz entstehen. In solchen Allianzen von Menschen und Tieren sollten wir denken.
Jede Stadt hat eine spezifische naturräumliche Lage, die seit Urzeiten ihr Raumkontinuum bildet. Durch unsere technische Infrastruktur, mit der alles machbar ist, auch Täler zu überspannen oder Böden auszutauschen, haben wir das aus den Augen verloren. Gegen die naturräumliche Struktur zu arbeiten, kostet aber viel Energie. Wir brauchen mehr Sensibilität für diese „deep time“, damit wir die Charakteristik von Orten zur Kenntnis nehmen, um daraus neue Qualitäten entwickeln zu können. Das heißt nicht, dass man nichts bauen oder verändern darf, aber wenn wir an einer Hangkante bauen, bauen wir anders als in einer planen Ebene. Der Boden ist eine Ressource, mit der wir sehr sorgsam umgehen müssen.
Wenn man die Stadt mit einem großen Felsen vergleicht, kann man sich vorstellen, dass es hier und dort viele Nischen für Tiere geben könnte. Schwalben, die an Fenstersimsen brüten, brüten gewissermaßen am Felsengebirge der Stadt. Die Stadt bietet in Keller- und Dachbereichen auch Höhlen, die sich als Wochenstuben oder Winterquartiere für Fledermäuse eignen. So kann die Stadt auch Habitate bieten, die es sonst nur in seltenen Naturräumen gibt. Wir sollten Strukturen fördern, die für Tiere in der Stadt geeignet sind.
Wir reden seit Langem über integrierte Stadtentwicklung, wie wir Einzelaspekte zusammenführen und miteinander verknüpfen. Ein Anti-Beispiel ist die Planzeichenverordnung zum Baugesetzbuch. Ein Bebauungsplan hat für jede Nutzung eine Farbe: Wohnungsbau ist rot, Straßen sind orange, Grünflächen grün.Das ist eine segmentierte Anschauung. Auch die Struktur der Verwaltung ist sektoral aufgebaut. Nutzungen und Zuständigkeiten derart auseinanderzunehmen, widerspricht einem integrierten Denken. Flächen müssten im Sinne einer Multicodierung übereinander gelagert werden. Da fehlt es noch an Ideen, und es besteht ein großer Regelungsbedarf, um das umsetzen zu können.
Der Begriff Multifunktionalität bleibt meines Erachtens abstrakt auf scheinbar objektive Funktionen begrenzt und blendet den Menschen mit seinen Interessenlagen aus. Codierung dagegen schließt unterschiedliche Interessenlagen mit ein. Eine Strategie der Multicodierung führt unterschiedliche Interessenlagen zusammen und damit auch Akteur*innen, die zusammenkommen. Eine Planungsstrategie der Multicodierung verhandelt unterschiedliche Interessenlagen, um knappe Flächen gemeinsam zu qualifizieren.
Das würde ich so sehen. Die Interessen von Tieren und Pflanzen in der Stadt sind genauso wichtig wie die Interessen eines Taxifahrers, von Schulkindern, Senioren und Jugendlichen. Klimaanpassungsinteressen und biologische Vielfalt sind auch von großer Bedeutung. Alle diese Akteur*innen mit ihren Interessenlagen zusammenzuführen, ist eine hehre Aufgabe und muss mit der Baukultur verbunden werden.
Der Straßenraum wurde lange nur aus verkehrstechnischer Sicht geplant. Jetzt kommen zu den Autos die Fahrradfahrer*innen dazu; Fußgänger*innen fordern Aufenthaltsqualität; wir brauchen mehr Bäume als Schattenspender; Regenwasser sollte nicht mehr in die Kanalisation abgeleitet werden, weil die Bäume es brauchen. Dazu kommt die biologische Vielfalt. Wenn wir Straßenraum in dieser Multicodierung denken, fangen wir an, ihn nicht mehr nur als monofunktionalen Verkehrsraum zu sehen, sondern als multicodierten Raum, an dem viele Akteur*innen Interesse haben. Diese Philosophie brauchen wir in einer Stadt, die wenig Flächen hat.
Ich sehe in Bezug auf Multicodierung, biologische Vielfalt, Aufenthaltsqualität, Klimaanpassung und Stadtbaukultur ein großes Potenzial dort, wo wir es mit technischen Infrastrukturen zu tun haben – nicht nur in den innerstädtischen, sondern auch in den Randbereichen: der Straßenraum, die Kanäle mit ihren Schleusen, Regenrückhaltebecken, technische Einrichtungen wie Kläranlagen, Umschaltwerke, Pumpstationen mit ihren Zufahrten, Rampen, Böschungen und Nebenflächen. Wenn wir diese mehrfach nutzbar denken, erschließen wir uns ein ganz neues Flächenpotenzial. Regenrückhaltebecken sind beispielsweise eingezäunt, zum Teil betoniert oder mit einem einfachen Rasen ausgestattet. Ihr Nutzen beschränkt sich auf wenige Starkregenereignisse im Jahr. Sie könnten als Orte für biologische Vielfalt oder kleine Oasen der Ruhe und Abgeschiedenheit aktiviert werden. Was kann da für ein Mehrwert für die Stadt entstehen!
Ja, das ist ein riesiges Flächenpotenzial. Allein 14 bis 20 Prozent der Städte sind Verkehrsflächen. Da gibt es ein schönes Beispiel aus Kopenhagen, die Müllverbrennungsanlage Amager Bakke von BIG, auf die man einen Skihang mit Ausblick gesetzt hat. Sie zeigt eine Innovation des Denkens, die wir auch in kleinen Formaten in anderen Städten brauchen. Langgestreckte Parks an den Kanälen, Deponien als Aussichtspunkte und Rodelberge oder Kletterwände an großen Industrieanlagen könnten eine Bereicherung sein.
Wichtig ist die Frage, welche Verantwortung wir für die Stadt übernehmen. Die Stadtgesellschaft sieht sich oft als Konsumentin. Man müsste eine Kultur entwickeln, die viel stärker auf ein gemeinsames Produzieren ausgerichtet ist, in die jeder seine Interessen mit einbringt. Meistens bedarf es Organisationshilfen, sogenannte Kümmerer, die solche Prozesse anstoßen und koordinieren. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Stadt ihre Aufgaben nicht mehr erfüllt nach dem Motto: „Wir gießen die Bäume nicht, das sollen die Bürger*innen machen.“ Stattdessen sollen Projekte gemeinschaftlich entwickelt werden.
Die Grundphilosophie des Konzeptes ist: Es wird eine Stadt für Menschen gebaut, gleichzeitig soll eine Stadt für Tiere mitgebaut werden. Zuerst einmal haben wir geschaut, welche Tiere überhaupt geeignet sind, in einer Stadt zu leben und welche Ansprüche diese Tiere haben. Das ist ein komplexes Lebenssystem von der Ernährung, Fortpflanzung bis zur Überwinterung, vom Tages- bis Jahresverlauf. Eine Rasenmulde, die für die Versickerung gut ist, kann auch mit Kräutern und Stauden für Insekten versehen werden. So tut man etwas für das Klima, Starkregenvorsorge, die biologische Vielfalt und die Erlebbarkeit des Straßenraumes.
Viel! Bauingenieur*innen bestimmen mit ihren Bauwerken ganz stark die Oberfläche und den Untergrund der Stadt. Sie greifen in die „deep time“ eines Naturraumes ein, oder sie erhalten die Topografie, die Böden, die Vegetationsstrukturen und damit auch die gebundene Energie und Ressourcen. Welche Strukturen können zum Beispiel für Animal-Aided Design durch die Bauwerke geschaffen werden? Ist die Straße klimaangepasst, trägt sie zur biologischen Vielfalt bei und hat sie ästhetische Aufenthaltsqualitäten? Ingenieur*innen im Verkehrs- und im Wasserbau sind zentrale Akteur*innen, die diese Mehrfachnutzbarkeit von Räumen mitgestalten. Multicodierung auf den Weg zu bringen, geht nur in Allianz mit anderen Fachrichtungen, zum Beispiel der Biologie und der Landschaftsplanung. Insofern ist das Bauingenieurwesen eine wesentliche Stellschraube von Kohabitation bis hin zur Baukultur in der Stadt.