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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 24 | 2025 Transformation

Artikel l Bauen im Bestand

Wiederverwenden statt Ersetzen

Je mehr bereits bestehende Substanz erhalten und wiederverwendet wird, je mehr umweltfreundliche Baustoffe zum Einsatz kommen und je weniger wertvolle Ressourcen im Lebenszyklus eines Gebäudes verbraucht werden, desto besser fällt die Gesamtenergiebilanz aus. Unser Autor plädiert für einen sparsamen Umgang mit unserer Bausubstanz.

Das neue ökologische Bewusstsein ist auch im Bauwesen sofort von genau jenen wirtschaftlichen Kräften instrumentalisiert worden, die am kritischen Zustand unseres Planeten schuld sind: als Rechtfertigung und Anlass für die Entwicklung, die Produktion und den Absatz weiterer Produkte. Der Konsum hat die Argumente der Klimaschützer vereinnahmt und setzt sie für die eigenen Zwecke ein. Das Haus ist nicht zeitgemäß isoliert? Dann reißen wir den Putz mitsamt Fensterlaibungen herunter, kleben eine dicke Isolierung auf das Mauerwerk und putzen darauf neu. Die Heiztherme ist defekt? Ja nicht reparieren, und ab auf die Deponie damit: Moderne Geräte sind mit einer Turbovorrichtung versehen, effizienter und damit weniger umweltbelastend. Darüber, wie klein der Unterschied beim Betrieb ist, und dass er in keinerlei Relation zum Aufwand steht, wird nicht geredet. Wer will sich schon angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe dem Vorwurf aussetzen, kleinlich zu sein?

Eine ernsthafte Betrachtung der Nachhaltigkeit darf sich nicht mit der Erfüllung pauschaler energetischer Vorgaben für einzelne Bauteile begnügen. Vielmehr muss das gesamte Gebäude, ja, die gesamte gebaute Umwelt als Akkumulation von Energie verstanden werden. Mit diesem Kapital, das wirtschaftlich, technisch, kulturell und emotional, aber eben auch energetisch ist, muss sorgsam und sparsam umgegangen werden. Mit anderen Worten: Es gilt, die Gesamtenergiebilanz von Errichtung, Betrieb und Abriss des Gebäudes in Augenschein zu nehmen. Je mehr bereits bestehende Substanz erhalten und wiederverwendet wird, je mehr umweltfreundliche Baustoffe zum Einsatz kommen und je weniger wertvolle Ressourcen im Lebenszyklus eines Gebäudes verbraucht werden, desto besser fällt sie aus.

Keller und Mauer

Die Wiederverwendung von bestehenden Gebäuden, aber auch von Bauteilen und Bauelementen in Neubauten spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie hat Tradition: Historische Städte wurden vielfach auf den Fundamenten urbaner Strukturen errichtet, die vor ihnen existierten, die Keller wurden wiedergenutzt. Die mittelalterlichen Stadtbauer verwendeten die verbliebenen antiken Mauern selbst dann, wenn ihre Geometrie obsolet geworden war: etwa jene der römischen Amphitheater, deren Ellipsen im Hausgefüge von Florenz oder Lucca noch deutlich erkennbar sind. Die monolithischen, meist aus hochwertigem Stein gemeißelten römischen Säulen wurden in den frühchristlichen Basiliken neu eingesetzt, so bereits in der Lateranbasilika und in Alt-Sankt-Peter: Wo sie unterschiedliche Höhen aufwiesen, glich man sie durch Basen oder Kapitelle aus, die vielerorts ebenfalls Spolien waren.

Ihre Apotheose erreichte die Praxis der Wiederverwendung antiker Säulen in der Mezquita von Córdoba. Zwischen dem späten 7. und dem Ende des 9. Jahrhunderts wurden dort 856 Säulen aus Granit, Marmor, Jaspis und Onyx, überwiegend aus verschiedenen antiken römischen Bauwerken, dazu verwendet, die Hufeisenbögen zu stützen. Sie tragen das Dach der riesigen Gebetshalle und schaffen so einen eindrucksvollen, fein gegliederten Raum.

Nicht nur die repräsentativen Monumentalbauten, auch die normalen Häuser waren und blieben lange Zeit Palimpseste aus Neuem und Vorgefundenem. Schon aus pragmatischen Gründen kam niemandem in den Sinn, eine solide gefertigte Tür, ein funktionierendes Fenster, eine steinerne Schwelle oder ein Gesims einfach wegzuwerfen. Sie stellten in erster Linie ökonomische Werte dar, vielleicht auch handwerkliche, künstlerische und emotionale. Man integrierte sie in die Neubauten, wo immer es möglich war.

Systematisch wurden nach dem Konzept der Vorfertigung, das sich ansatzweise durch die gesamte Baugeschichte zieht und im 20. Jahrhundert als industrielle Präfabrikation etablierte, Bauteile typisiert und normiert. Damit waren sie vielerorts in den Gebäuden und in der Stadt einsetzbar. Allerdings ging es dabei, von wenigen utopischen Ausnahmen abgesehen, um die Rationalisierung der Bauproduktion durch präzise, schnelle und wirtschaftliche Herstellung und Montage, nicht um mögliche Wiederverwendung. Der Crystal Palace war zwar von vornherein als demontierbar, weniger als recyclebar konzipiert. Der Gärtner und Architektur-Autodidakt Joseph Paxton 1851 schuf ihn für die Londoner Weltausstellung. Nach Ablauf des Ereignisses zerlegte er ihn in seine Bestandteile und baute ihn ein paar Jahre später in Sydenham verändert wieder auf.

Das Leben des Bauwerks entwerfen

Damit es sich lohnt, Materialien und Bauteile wiederzuverwenden, müssen sie allerdings werthaltig sein. So sind die Spolien, die in der Vergangenheit bewahrt und neu eingesetzt wurden, nicht nur materiell, sondern zuweilen auch künstlerisch wertvoll: so sehr, dass man vermuten könnte, sie würden weniger aus praktischer Sparsamkeit als aus ästhetischer Raffinesse neu genutzt. In die Fassade des romanischen Doms von Pisa wurden Fragmente von antiken marmornen Architraven, Pfeilern, Altären und Grabmonumenten mitsamt Inschriften nonchalant integriert – nicht zuletzt, um den Anspruch der aufstrebenden Seerepublik zu demonstrieren und das machtpolitische Erbe Roms anzutreten. Sogar ein Teil des Delphinfrieses der Neptunbasilika aus den Jahren 115-127, die sich hinter dem Pantheon befindet, fand einen neuen Ort und Zweck als Absperrung des Presbyteriums.

Heute geht es eher um bauliche Antiquitäten wie schmiedeeiserne Gitter oder Natursteinpflaster, die unverhofft in den Gärten von Vorortvillen landen, zunehmend auch um pragmatische Elemente wie Fenster, Türen, Fußböden, Waschbecken, Wasserhähne. Ihre Wiederverwendung legt nicht zuletzt die Tatsache nahe, dass die alten Fabrikate oft handwerklich besser sind als neue und eine besondere Ausstrahlung haben. Wiederverwendung lohnt, aber nur, wenn das, was wiederverwendet wird, Qualität besitzt. Auch neue Bauten müssen von vornherein auf die Wiederverwendung ihrer Baustoffe und Elemente eingestellt und entsprechend geplant werden. Das bedeutet: Einsatz möglichst weniger, reiner, unvermischter und unbehandelter Materialien, ohne Beschichtungen und Anstriche; leicht demontierbare und ebenso leicht wieder zu verwendende Bauteile; simple, solide handwerkliche Details; keine Klebeverbindungen und Silikon-Abdichtungen, sondern saubere mechanische Fügungen, die wieder gelöst werden können. Nicht nur die Realisierung eines Gebäudes, also seine Geburt, sondern auch dessen Leben und Lebensende müssen entworfen werden.

 

Der vorliegende Text ist ein Auszug des Buchs „Gegen Wegwerfarchitektur. Dichter, dauerhafter, weniger bauen“ von Vittorio Magnago Lampugnani (Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023, 3. Auflage 2024), der vom Autor für diese Publikation überarbeitet wurde.

Text / Vittorio Magnago Lampugnani