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Magazin der Schüßler-Plan Gruppe

Ausgabe 18 | 2022 CO2

Im Dialog mit Sarah Nichols

Beton ist überall

What you see is not what you get: Beton ist viel mehr als Material und Oberfläche. Er ist auch Energie, Arbeit und Kultur. Architektin und Beton-Forscherin Sarah Nichols im Interview.

Interview in English

Sarah Nichols ist Architektin und Professorin an der EPFL in Lausanne und wissenschaftliche Kuratorin der bis April 2022 laufende Ausstellung ‚Beton‘ für das Schweizerische Architekturmuseum in Basel.
Was hat Sie dazu gebracht, mit Beton zu arbeiten?

Ich bin in den USA aufgewachsen. Beton wird in den USA viel verwendet, aber nicht so wie in Europa. Man findet ihn in Parkhäusern oder Flughäfen, aber viel seltener in Häusern, in denen man sich jeden Tag aufhält. Es besteht eine Faszination für die Robustheit der europäischen Bauweise und die Fähigkeit, etwas Massives zu bauen. Diese Schwere gibt es in den USA fast gar nicht. Dann habe ich im Jahr 2008 in Peking gelebt. Ein saurer Geruch lag über der Stadt und sie war immer grau. Kurz vor den Olympischen Spielen wurden die Fabriken geschlossen, um die Luft zu reinigen und die prekären Arbeiter auf den Baustellen zu verbergen. Dann wurde der Himmel blau und der Geruch verschwand. Mir wurde klar, dass das, was da herumgeweht wurde, Smog aus Zementstaub war. Später unterrichtete ich an der ETH Zürich im Studienprogramm Entwurf und alle Studierenden erstellten ihre Abschlussmodelle in Beton. Irgendwie war dieser Beton überall.

Sie haben also ein strukturelles Interesse an diesem Material entwickelt?

Nachdem ich mehr über die Zementindustrie in Erfahrung gebracht hatte, beschloss ich, eine Dissertation darüber zu schreiben, wie es zu dem breiten Einsatz von Beton in der Schweiz kam. Dabei ging es nicht um Exzeptionalismus in der Architektur, sondern darum, das System aus Tests, Normen und Industrieverbänden zu verstehen, das dafür sorgte, dass die Verwendung von Beton immer einfacher wurde. Es ist also nicht gerade ein Liebesbrief. Vielmehr geht es darum zu verstehen, wie wir in die Krise geraten sind, in der wir uns heute befinden.

Ein Land wie die Schweiz, das von Tunneln durchzogen und über Brücken verbunden ist, ist ohne Beton nur schwer vorstellbar.

Der moderne Portlandzement wurde in der Schweiz erst im späten 19. Jahrhundert als Industrieprodukt entwickelt, später als in Frankreich, England und Deutschland. In einem Binnenstaat mit relativer Rohstoffarmut waren die Schweizer im Gegensatz zu ihren Nachbarn auf importierte Rohstoffe für Gusseisen- oder Stahlkonstruktionen angewiesen. Da bot der moderne Beton eine Chance, denn theoretisch waren alle Ausgangsstoffe im Lande vorhanden. Allerdings braucht man für die Herstellung von Zement eine ganze Menge fossiler Brennstoffe und da es in der Schweiz nur wenig Kohle gibt, musste man diese nun importieren. Beton als Material aus der Region war also ein starkes Schweizer Narrativ, allerdings eines, das nicht der ganzen Wahrheit entsprach!

Fanden Sie, dass Beton zu positiv wahrgenommen wurde?

Als ich anfing, mich mit dieser Frage zu beschäftigen, wusste jeder über den CO2-Fußabdruck Bescheid, aber er war nicht im Bewusstsein der Menschen verankert. Inzwischen gehört das Thema zu den grundlegenden Entscheidungsprozessen bei der Planung: Ist es verantwortungsvoll, dieses Material zu verwenden? Gibt es eine bessere Alternative? Es ist großartig, dass die ökologischen Auswirkungen des Materials jetzt im Vordergrund stehen, aber das ist nur ein erster Schritt.

Sie sagen, Beton sei mehr als nur Stein, Sand oder Mauern. Er sei auch Arbeit und Energie.

Er ist nicht nur die sichtbare Oberfläche, die häufig als erstes kritisiert wird. Der meiste Beton wird für Infrastruktur verwendet. Aber reden wir über Beton in Kellern? In der Tragstruktur eines Gebäudes? Wir brauchen eine breitere Diskussion, die über Ästhetik und Wasserkraft hinausgeht.

Wodurch unterscheidet sich Beton von anderen Materialien?

Er ist billig. Zu billig. Wir zahlen nicht genug dafür, weil die ökologischen Kosten nicht in den Preis eingerechnet werden. Außerdem ist Beton ein globaler Werkstoff, der jedoch vor Ort hergestellt und nicht um die Welt transportiert wird wie etwa Stahl. Es gibt eine Tendenz zur Konzentration, weil größere Zementfabriken effizienter arbeiten und dazu beitragen können, die CO2-Intensität der Herstellung zu verringern, wenn auch nicht annähernd um den Faktor, der notwendig wäre.

Sehen Sie weitere nachhaltige Perspektiven für Beton?

Der Preis muss die wahren Kosten für den Einsatz des Materials widerspiegeln, über eine Umweltsteuer, die die Schwierigkeiten beim Recycling abbildet. Sogar gemahlener Beton, der als Zuschlagstoff recycelt wird, erfordert mehr Zement in der Mischung, um den Verlust an Festigkeit auszugleichen. Es gibt Materialwissenschaftler, die an alternativen Zementen arbeiten, bei denen der Umwandlungsprozess des Kalksteins verändert wird. Denn das freigesetzte CO2 stammt nicht nur aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen, sondern auch aus dem Kalzinierungsprozess. In der Vergangenheit konnten Verbesserungen durch die Steigerung des Wirkungsgrads des Ofens erzielt werden, aber das reicht nicht aus.

Erkennen Sie eine neue Ethik oder Ästhetik, die sich aus dem wachsenden ökologischen Bewusstsein ergibt?

Absolut. Ein besonders starkes Element ist, dass in den Architekturschulen früher jedes Projekt ein Neubau war, wobei es kaum Einschränkungen gab. Das hat sich radikal geändert. Das Ethos von Renovierung und Umgestaltung stellt die Idee der Autonomie oder des Genies des Architekten in Frage und zeigt, dass es einen Weg geben kann, auf das Bestehende intelligent zu reagieren. Muss ein bestimmter Bau unbedingt abgerissen werden? Können wir nicht mit dem arbeiten, was da ist, anstatt nach bekanntem Muster vorzugehen oder zu wünschen, dass neu gebaut wird?

Haben hier auch Bauingenieur*innen eine Verantwortung?

Auf jeden Fall, und zwar nicht nur, indem sie die Arbeit an alternativen Werkstoffen unterstützen oder ihre Verwendung vorantreiben. Es geht auch um Dauerhaftigkeit. Ein zentrales Argument ist die Aussage, dass Gebäude, die auf Dauer gebaut werden, nachhaltiger sind. Diese Strategie kann jedoch nach hinten losgehen, wenn die Einschätzung nicht realistisch ist und feste Gebäude mit hochwertigen Materialien am Ende nach 20 Jahren abgerissen werden. Die Diskussion in der Baukultur läuft mitunter nicht synchron mit den wirtschaftlichen Aspekten des Immobilienmarktes in den Zyklen der Erneuerung und des Abrisses, die sich auf das städtische Gefüge auswirken.

Einen Tunnel kann man aber nicht aus Holz bauen.

Dies ist ein Teil der Diskussion, die wir führen wollen. Die notwendige Abwägung der Materialwahl sollte nicht darauf reduziert werden, dass Beton schlecht ist. Die Perspektive sollte erweitert werden, um die Bedeutung vom Bauen im Allgemeinen zu umfassen.

... auf die Kultur, die das Bauen umgibt?

Ganz genau. Der Akt des Bauens ist mit einem faustischen Handel verbunden: Um bauen zu können, muss man zerstören. Man muss fossile Brennstoffe fördern und verbrennen, man muss große Maschinen heranschaffen, die den Bestand gefährden. Das bedeutet nicht, dass die Architektur oder die Infrastrukturen nicht auch Gutes bewirken können. Aber dies verdeutlicht die Kosten für alles, was wir tun. Und Beton ist nur ein Teil davon. Auch Gebäude aus Holz sind in einem größeren Ökosystem verhaftet. Woher kommen denn die Bäume? Wer arbeitet auf der Baustelle und wie sind die Arbeitsbedingungen? Was geschieht mit dem Material, das auf der Baustelle abgerissen wird? Es gibt eine Menge heikler Fragen. Ich hoffe, dass die Diskussion über CO2 stärker interdisziplinär geführt werden kann, dass wir all die anderen Dinge verstehen, die auf den Tisch kommen müssen. 

Interview / Marie Bruun Yde
Fotos / Titelfoto, Gertrud Vogler, Februar 1981. Schweizerisches Sozialarchiv; Portrait, Jacki Schafer